Samstag Nachmittag, 16:30 h. Nachdem ich 2 Stunden zuvor den Gedanken, kurzfristig nach Düsseldorf zum Vibravoid Konzert zu fahren und meine Freunde mit meiner Anwesenheit zu überraschen, verworfen habe (im Moment keine Lust, stundenlang im Zug zu sitzen), komme ich zu dem spontanen Entschluss, mal wieder ins Ausland zu fahren. Manchmal muss ich einfach etwas ganz anderes sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken. Fast wie in eine andere Welt eintauchen. Das mag ich ja. Umso mehr, da ich mich erst am selben Tag (hoffentlich nicht nur temporär) von einer speziellen Welt (innerhalb meines derzeitigen Wohnortes) gelöst habe. Schaue also auf meinem iPhone nach, wo die nächste Grenze ist. Eine der nächsten grösseren Städte hinter der Grenze heisst Klatovy. Das hört sich gut an und wird mein Ziel. Schnell mit der Bahn zur nächsten Autovermietung gefahren und einen Wagen gemietet. Noch schnell um die Ecke nach Hause und 2-3 Sachen eingepackt (natürlich Zahnbürste und Zahnpasta vergessen). Habe seit einem speziellen Erlebnis nur 1x wieder hinter dem Steuer gesessen (während eines Aufenthalts in meiner 'wirklichen' Heimat, in der Auto fahren ein Erlebnis ist). Es funktioniert jedoch, nur leider ist der von mir ausgewählte Fahrzeugtyp nicht das Gelbe vom Ei. Irgendein Opel Modell. Schlechte Strassenlage und irgendwie eine Blechbüchse.
Irgendwo im tiefsten Bayrischen Wald auf einer einsamen Landstrasse halte ich an einer kleinen Tankstelle, die eigentlich gerade dicht machen will. Kaffee, Bi-Fi und Benzin. Ich frage das ältere Ehepaar, wie weit es noch bis zur Grenze ist, welches Land dahinter liegt (ich weiss es wirklich nicht, da das auf dem kleinen Display meines Handys nicht auf Anhieb erkennbar und mein Akku fast leer ist) und welche Währung dort benutzt wird. Die ersten beiden Fragen bekomme ich eindeutig beantwortet, bei der dritten Frage sind die beiden älteren Herrschaften sich nicht einig. Die Dame weiss es nicht und der Herr meint, na EURO. Nach 50 km kurz hinter der Grenze stelle ich fest, dass das Benzin '33.00' kostet. Habe schon lange nicht mehr getankt, aber so teuer kann der Liter Benzin nun doch nicht geworden sein. Also wohl doch kein EURO-Land. Wechsele also vorsichtshalber an der Tankstelle Geld. Bekomme Kronen. Schön.

Der kleine Ort besteht fast ausschliesslich aus Hotels, Pensionen, Spielcasinos und – nicht zuletzt – einschlägigen Bars und Night Clubs. Ich fahre jedoch weiter Richtung meines Ziels (bin stolz auf mich). Wald, Berge, teilweise gestreute Strassen, kaum Autos und Ortschaften (zwischendurch jedoch wieder ein Night Club am Strassenrand). Irgendwie komme ich hier mit meinem Navi nicht klar und weiss nicht, wie weit es noch bis Klatovy, meinem selbsterkorenen Ziel, ist. Jedoch im Prinzip ist mir das auch egal. Als ich keine Lust mehr zu fahren habe, halte ich an einer Pension incl. Restaurant, die in einer kleinen Ortschaft direkt am Strassenrand liegt und mir vom Äusseren her sympathisch ist. Das Restaurant ist eine urige Kneipe, voller Menschen, die wohl gerade irgendein Turnier hinter sich und schon eine erhebliche Menge Alkohol getankt haben. Sofort erkenne ich, dass ich es optimal getroffen habe. Der Wirt, nebst Sohn und Frau, nimmt mich äusserst freundlich (offen, herzlich, ungekünstelt) in Empfang. Nur der Wirt kann etwas Deutsch, mit Englisch komme ich hier nicht weit und von der Landessprache verstehe ich leider kein einziges Wort. Das Zimmer ist schon eine kleine Wohnung und hat den Charme von Nachkriegsostblockbehausungen (das ist in diesem Falle positiv gemeint!). Ich mische mich natürlich unters Volk und geniesse das herrliche, süffige, landestypische Bier vom Fass (obwohl ich ja bekanntermassen kein 'Biertrinker' bin). Die Wirtin macht mir auch noch etwas zu essen, 2 panierte Riesenschnitzel (richtig leckeres und kein Pressfleisch) mit Pommes. Zwischen den Bieren trinke ich – nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen – Slivovitz.
Ich erlebe genau das, was ich mir gewünscht habe – eine andere Welt. Die Menschen reden in fremden Zungen und sind durchgängig bodenständige, urige Typen mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Direkt neben mir an der Theke sitzt Vladimir Kaminer in Jogginghose und kariertem Kapuzenpulli und bietet mir einen 'Fernet' an. Ich lehne ab, das ist dann sogar mir zu extrem. Höchstwahrscheinlich ist es wohl doch nicht der Herr Kaminer, in diesem Moment und diesem Zustand sieht er für mich jedoch genau so aus.
Als ich dann irgendwann bezahle, bin ich baff. Für das Zimmer für 1 Nacht, das Essen sowie – ich glaube – 5 grosse Bier sowie Schnaps soll ich - umgerechnet – 26,80(!!!) EURO zahlen. So extrem habe ich es mir nicht vorgestellt. Ich runde auf 30 EURO auf, was den Herrschaften schon fast peinlich ist und ich muss als Ausgleich noch zumindest einen Schnaps auf's Haus trinken. Dann auf meinem Zimmer finde ich einen TV-Sender, der die ganze Zeit alte Peter Alexander Filme aus den 50er Jahren zeigt. Herrlich!

Am nächsten Morgen schaue ich aus dem Fenster eine Zeitlang auf die Strasse und die angrenzenden Häuser. Dann mache ich dies und das (was man morgens eben so macht) und schaue zwischendurch immer wieder mal aus dem Fenster. Irgendwann fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit noch kein Auto und keinen Menschen gesehen habe. Alles total ruhig und friedlich. Bevor ich weiterfahre, gehe ich noch ein wenig spazieren und mache Fotos. Es sieht hier so aus, wie es eben im Osten in kleinen Dörfern aussieht. Und es riecht auch anders hier, da noch mit Holz geheizt wird und viele Schornsteine qualmen. Ich mag diesen Geruch. Das hier erinnert mich an den Trip mit einer Freundin kurz nach dem Mauerfall durch die DDR, als wir uns das Ganze mal von Nahem anschauen wollten.
Bei der Weiterfahrt stelle ich fest, dass das Örtchen (Luby) zu Klatovy gehört und ich schon kurz vor meinem selbsterkorenen Ziel bin. Am Ortsrand stelle ich erfreut fest, dass dieses Land zumindest einen grossen Vorteil zu Deutschland hat: Ein grosser Supermarkt (Kaufland) hat ganz selbstverständlich sonntags von 7-20 Uhr geöffnet. Ich kann also erst einmal die wichtigen Dinge kaufen, die ich vergessen habe. In erster Linie Zahnbürste, Zahnpasta, Einwegrasierer. Auf der Toilette putze ich mir als ergänzende Morgentoilette die Zähne und rasiere mich, damit ich wieder frisch und gepflegt aussehe.
Auch Klatovy ist fast menschenleer. Es hat eine schöne, kleine Altstadt mit typisch sozialistischen Wohnblöcken drum herum. Ein Hotel / Restaurant am Rande der Altstadt (mit Blick auf die Wohnblöcke) mit typischem Ostblockcharme hat es mir angetan. Da ich ja von Natur aus neugierig (und wissbegierig) bin, gehe ich hinein, auch um es für einen evtl. weiteren Besuch dieser Gegend auszukundschaften. Sofort schlägt mir der spezielle, muffige Geruch von mindestens 50 Jahren Zigarettenqualm und was weiss ich noch entgegen. Im 'Restaurant' sitzen einige wenige seltsame Gestalten rauchend vor ihrem Bier. Auf meine Fragen hin muss erst jemand geholt weden, der Deutsch kann. Ein älterer, hagerer, unrasierter, freundlicher Kauz mit gelben, schiefen Zähnen kommt auf mich zu. Die Übernachtung kostet 15 EURO und ich gehe zusammen mit dem Kauz ein Zimmer anschauen. Das Zimmer ist ein Schlafsaal mit ca. einem Dutzend ebenerdiger Betten. Zwar ein durchaus grosszügiges Zimmer mit Balkon und nicht zu verachtendem Blick auf bonbonfarbene, sozialistische Wohnblocks, jedoch vielleicht doch nicht unbedingt das, was mir zusagen würde. Diejenigen unter meinen Freunden, die schon einschlägige Ostblockerfahrung besitzen, werden genau wissen, worüber ich rede.
Der freundliche Kauz freut sich, mal wieder Deutsch sprechen zu können und erzählt u.a. radebrechend, dass er eine Zeitlang in der DDR in Ostberlin gewesen sei und bei dieser Gelegenheit auch mal über die Mauer auf den Westen geblickt habe. Zum Abschied gibt er mir die Hand und meint, dann bis heute nachmittag. Er muss da wohl etwas falsch verstanden haben (oder vielleicht auch ich).

Jetzt ist es Zeit zu Mittag zu essen und ich entscheide mich für das Van Gogh Restaurant im Zentrum Klatovys. Es ist modern und dennoch sehr gschmackvoll eingerichtet und würde auch gut in die Düsseldorfer 'Szene' passen. Das Essen ist gut und es gibt – wie in vielen Lokalitäten hier – Free Wi-Fi. Ich zahle für das gut proportionierte Mahl, einen Cappuccino, eine Cola sowie einen Espresso Macchiato umgerechnet 9,80 EURO (Cappuccino und Espresso sind übrigens ausgezeichnet und professionell zubereitet). Da kann man auch nicht meckern.
Jetzt ist es Zeit, die Umgegend zu erkunden. Bewusst ohne zu planen folge ich irgendwelchen Hinweistafeln zu irgendwelchen kleinen Dörfern auf Landstrassen im Umkreis Klatovys. Ich sehe kaum Autos und Menschen, dafür viel Natur, viele Hühner und charmante kleine Marktflecken mit malerisch heruntergekommenen Bauwerken. Ich halte des öfteren an, um Fotos zu machen und komme dabei einmal mit einem Einheimischen, der auf seinem Feld werkelt, ins Gespräch. Gespräch ist eigentlich zu viel gesagt, denn er spricht ausschliesslich in seiner Landesspfrache und ich ausschliesslich Deutsch. Keiner hat wohl die Worte des anderen verstanden, ich hatte jedoch trotzdem das Gefühl, eine nette und angenehme Unterhaltung geführt zu haben.


Als es beginnt, dunkel zu werden, finde ich zum Glück wieder den Weg auf die Hauptstrasse Richtung Klatovy und von da aus zurück Richtung deutsche Grenze. Am Grenzort mache ich noch einmal Station, um ein Gefühl für die dortigen Etablissements zu bekommen. Zuerst gehe ich in das grösste Casino des Ortes, das täglich 24 Stunden geöffnet hat. Es ist noch ziemlich leer und ich kann dem nichts abgewinnen. Das war schon in Las Vegas so - Gambling (incl. der Menschen, die dem verfallen sind) interessiert mich einfach nicht. Dann besuche ich noch eines der einschlägigen (ja, ich mag dieses Wort) Etablissements (auch dort ist es noch total leer), jedoch nur, um kurz die Atmosphäre zu schnuppern und meinen Forscherdrang zu befriedigen. Heute also keine 'teilnehmende Beobachtung'.
Als ich auf der Rückfahrt wieder die deutsche Grenze passiere, kommt mir in den Sinn: "Back in the BRD – leider".
So, das war ein – im Vergleich zu den vorherigen – untypisches Wochenende meiner Wenigkeit, denn ich bin ja, wie schon anfangs erwähnt, gerade wieder aus einer 'anderen Welt' aufgetaucht.