Das Publikum ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Zumeist nicht mehr ganz so junge Herrschaften, die in Würde gealtert sind. Gina und Jason stehen in der Schlange vor mir und wir unterhalten uns über Amon Düül, Faust, Can, Current 93 etc. Gina hat Current 93 vor ca. 2 Jahren ebenfalls hier in der Great American Music Hall gesehen. Am Anfang sang David Tibet allein zu Klavierbegleitung. Ich erzähle von einem lange, lange zurückliegenden Live Konzert von Can und wie sehr mich deren Sänger Damo Suzuki damals beeindruckt hat.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite singt jemand laut vor sich hin und macht dabei zeitlupenartige, seltsame Bewegungen. Diese Performance ist an niemanden speziell gerichtet, sie scheint nur für den jungen Mann selbst bestimmt zu sein.
Jemand kontrolliert die Karten und gibt uns einen Stempel, während wir noch in der Schlange stehen. Gute Idee, dann geht es schneller beim Einlass.
Die Great American Music Hall ist eine schöne alte Halle. Ich folge Gina und ihrem Freund auf die Empore. Sie meint, das wären die besten Plätze. Langsam wird es etwas voller. Unter den Besuchern sind natürlich auch einige schwarz/gruftig aussehende Herrschaften sowie ein Herr im Nurse With Wound-Industrial-Look, als wären wir noch in den 80ern des letzten Jahrhunderts. Er trägt den gesamten Abend über seinen gewollt harten, industrialmässigen Gesichtsausdruck ohne jegliche Variation in Mimik und Gestik. Ich habe etwas Mitgefühl mit ihm - das muss doch anstrengend sein, immer eine klischeehafte Maske zur Schau stellen zu müssen. Aber dahinter ist er bestimmt ein netter Mensch. Er sollte sich mal ein paar Scheiben von der Offenheit, dem Humor und der Warmherzigkeit seines Idols Steven Stapleton abschneiden.
Hier kann man sich während des gesamten Konzerts Essen und Getränke an den Platz kommen lassen. Kurzfristig beschliesse ich, heute mal keinen Wein, sondern Cocktails zu trinken. Ich entscheide mich für einen Gimlet. Dazu bestelle ich eine Portion Nachos. Der Gimlet ist ausgezeichnet und so stark, dass er mir sofort zu Kopfe steigt. Genau in dem Moment, als das Licht ausgeht und das Konzert beginnt, kommen die Nachos. Das ist mir in diesem Moment gar nicht Recht. Es ist eine Riesenportion, die mindestens für eine halbe Fussballmannschaft reicht, mit allen möglichen leckeren Zutaten angerichtet. Jedoch keiner meiner Nachbarn will mir beim Verzehr helfen und so bleibt mehr als die Hälfte übrig.
Vom ersten Moment des Konzerts an bin ich hin und weg. Einer meiner ersten Gedanken ist - cocktailberauscht - fahrt, fliegt bis ans Ende der Welt, nur um NWW zu sehen. Es beginnt mit Freida Abtan, die am Computer sitzt. Zu elektronischen Sounds läuft ein Video mit in Zeitlupe tanzenden, schemenhaften Gestalten. Hoher Gänsehautfaktor.
Dann werden die Videos abgelöst durch Close Ups einer Live Kamera von Jim Haynes' Händen, die mit allen möglichen Dingen hantieren. Für mich sieht es aus, als ob Mikroorganismen unter dem Mikroskop zum Leben erwachen.
Freida's set segued into Jim's,
and all of a sudden her images were replaced by a live camera close-up
of Jim's hands as he manipulated what appeared to be gravel and sand,
rubbing it around on a metallic surface. The sound shift from one
artist to another was seamless, with Jim's manipulative little fingers
slowly introducing the magnified grating sound of sediment and metal,
making the soundscape harsher, more gritty. Other items were
introduced and projected onto the screen above the stage. Eventually,
we were treated to the sound and sight of pulsing sand (possibly mixed
with salt). It appeared to boil under the vibrating assault of unseen
machines. Eventually, Jim added some cicada husks to the dynamic
shuddering mess, making them dance in time to the rhythm. For all the
world, it resembled famished zombie insects drawn to a sugary treat.
Anschliessend beginnt das irr.app.(ext.) Set (Electroacoustic / Psychedelic / Comedy), danach gibt es eine kurze Pause und dann spielen Nurse With Wound, dieses Mal in der Besetzung Steven Stapleton, Colin Potter, Matt Waldron und Andrew Liles. Ich beschreibe jetzt nicht das ganze Konzert, lest dazu den Blogeintrag von Crow (dem alle Zitate in diesem Beitrag entnommen sind).
This time out, Nurse featured the core of Steven Stapleton, Colin Potter, Matt, and Andrew Liles, joined by John Contreras
and Richard. The film (which I forgot to ask about) started with quiet
domestic scenes of people reading newspapers and eating, calmly
ignoring the dripping offal splattering around them. During the course
of the set, this changed to domestic scenes of people ignoring the fact
that they were on fire, and people failing to realize that they were
under water. Quite strange. Nurse ratcheted along with creaks and
nearly subsonic bass frequencies, sometimes augmented by the spastic
guitar stylings of Mr. Liles, and the falsetto crooning of Matt.
Having doffed his "Who the fuck is Harry Potter?" shirt, Colin had on a
shirt with a lit-up vu meter on it.
(...)
The music shifted from ominous to silly quite often, usually with no warning. The encore consisted of Black Teeth, sung by Matt, and Alice the Goon. The latter devolved into excessive silliness, and ended with Andrew playing the first few bars of Smoke on the Water.
Above it all, on the screen, mattresses took off into the air and
houses and furniture plummeted over cliffs and down rocky, barren
hillsides.
Von meiner Seite nur so viel: das Konzert war tiefgehend, berührend, vielseitig, humorvoll, kreativ - kurz gesagt: mindblowing. Schon vor ca. 25 Jahren, als ich intensiv (und fast ausschliesslich) Industrial hörte, fühlte ich immer eine Seelenverwandtschaft zu NWW (und damit Steven Stapleton) ob deren Vielseitigkeit, Differenziertheit und Kreativität - auch wenn ich sie nicht so oft hörte wie z.B. Current 93, Coil oder Laibach. Schon damals war mir klar, dass Steven Stapleton alles nicht so ernst nimmt und mit dem ganzen Genre herumspielt.
Nach dem Konzert steht Steven Stapleton neben dem Merchandise Tisch und signiert Platten und CDs und lässt sich bereitwillig zusammen mit seinen Fans ablichten (u.a. auch mit dem Hardcore-Industrial Fan, der auch beim Posieren zusammen mit Steven Stapleton keine Miene verzieht). Auf jede Frage gibt Steven S. bereitwillig Auskunft und für jeden hat er ein freundliches Wort. Immer wieder sagt er 'Thank You'. Er ist wirklich ein offener und warmherziger Mensch.
Auf meine Frage, wann sie nach Deutschland kommen, antwortet er, dass sie im Juli zusammen mit Jean-Hervé Peron von FAUST auf dem Avantgarde Festival in Shiphorst bei Hamburg spielen werden. Als ich ihm sage, dass ich seinen Sinn für Humor mag, antwortet er: I like to play around with things. Genau das ist es, was die Essenz seiner Kreativität ausmacht. Im Netz habe ich gefunden, dass NWW schon ein Unterwasserkonzert gegeben haben und dass Steven Stapleton demnächst eine Rap-Platte machen will, da ihn weiblicher Rap schon immer fasziniert habe.
Leider habe ich Schwierigkeiten, mich auf das Gespräch zu konzentrieren und schaffe es auch nicht mehr, mich mit dem Merchandising zu befassen, da es im Laufe des Konzerts doch einige Gimlets mehr geworden sind.
Hier ein Fotostream bei Flickr von diesem Konzert. Auf diesem Bild ist meine Wenigkeit zu erkennen.
Auch auf YouTube gibt es inzwischen einen Ausschnitt:
Currently playing in the background: Irr.App.(Ext.) - Smelly Tongues
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