Meine täglichen Fahrten aus Gründen des Broterwerbs erfolgen nicht mehr mit dem Auto, sondern mit dem Zug. Ab einer bestimmten Geschwindigkeit, gepaart mit einer speziellen Vibrationsebene, beginnen im Zugabteil Licht und Atmosphäre zu flimmern und zu flirren. Es kommt zu den sog. Lichtüberlagerungen.
Mit meiner Kamera festgehaltene Lichtüberlagerungen irgendwo auf der Strecke zwischen Kleinenbroich und Hückelhoven-Baal
In diesen Momenten öffnen sich die Grenzen, die sich unser Geist normalerweise selbst auferlegt. Da unser Geist momentan an einen Körper gebunden ist, ist es die Funktion des Gehirns, die Eindrücke der äusseren Welt im Sinne der notwendigen Körperfunktionen und des Überlebens zu filtern. Manchmal jedoch werden diese selbst gesetzten Grenzen aufgehoben, so wie z.B. in Zügen beim Zusammentreffen von verschiedenen Bedingungen wie Geschwindigkeit und Vibrationsebene.
In solchen Momenten ist der Geist aller sich im Zugabteil befindenden Menschen eins. Personen, die ansonsten jeder für sich vor sich hinstarren, öffnen sich bewusst ihren Mitreisenden und lassen diese an ihrem reichen Innenleben teilhaben. Jedoch das Interessanteste ist, dass ich diese Gedankenbilder mit meiner Kamera - wenn auch nur teilweise verschwommen - einfangen kann.
Ein junger Mann in weissem Rollkragenpullover lässt das letzte Wochenende, das in erster Linie mit Komatrinken ausgefüllt war, noch einmal Revue passieren:
Eine ältere Frau mit einer riesigen Warze auf der Nase und einem Kassengestell wie aus Urgrossvaters Zeiten liest gerade 'The Dark Twins of Evermore', eine Geschichte von Zwillingen aus dem nordöstlichsten Winkel von Schottland, die aus zwei vorsintflutlichen Eiern schlüpften:
Ein älterer Herr mit einer Eisenbahnschachtel auf dem Kopf schwelgt in der Vergangenheit - es muss so die Zeit zwischen 1939 und 1945 sein:
Ein ganz in Schwarz Gewandeter hört gerade die Textzeile 'There must be something of Heaven in Death' eines Stücks von Current 93 und geilt sich an dieser dualistischen Metapher auf, die mit dem Funktionieren unseres Daseins so gar nichts zu tun hat:
Eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren und einem blutroten Schal denkt über einen ihrer immer wiederkehrenden Träume nach, in dem ein Vogel, der von einem Auge beobachtet wird und auf einem seltsamen Drahtverhau sitzt, eine nicht unwesentliche Rolle spielt:
Eine stämmige junge Frau in einer dicken braunen Daunenjacke, in der sie aussieht wie ein Michelin-Männchen, denkt immer nur an das Eine:
Auch die Szenerie ausserhalb des Zugabteils verändert sich. Manchmal erscheinen Hinweisschilder wie aus einer anderen Welt, z.B. zum Stadtwal nach Mettmann:
Auch ausserhalb des Zuges lösen sich die Grenzen der Welt, so wie wir sie normalerweise wahrnehmen, auf:
Irgendwann kommt der Zug in Hückelhoven-Baal an und ich steige aus. Da die Vibrationsebene sich ausserhalb des Zuges ändert, ist auch die Wahrnehmung eine andere:
Ich steige in den Disco Bus und fahre in - für die meisten Menschen - unbekannte Zonen.
Currently playing in the background: Dan Kauffman - Force Of Light
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