Wir brachen in der Kahrener Hauptstr. 23 in Cottbus auf. Die Hausnr. 23 wurde bewusst wegen ihrer Symbolik gewählt. Wir, das waren Paul, Klimte, Egon und ich. Egon war ein wenig seltsam. Er flüsterte des öfteren vor sich hin. Sätze wie: Egon kommt von Ego. Egon will nur spielen. Egon, Egon, das wird noch schön enden mit dir. Zwischendurch knurrte er manchmal wie ein Hund, jedoch eher wie einer, der eine kleine Magenverstimmung hat und nicht besonders extrovertiert ist. Seine Lieblingsmusik war NON und da speziell das Stück 'Fountaine of Fortune', das er zwischen seinen Flüstersätzen zumeist leise, aber auch manchmal halblaut, vor sich hin pfiff. Über Paul und Klimte gibt es nicht viel zu sagen. Sie waren die übliche Mischung aus Herrenreiter und Damensattel.
Unsere mit viel Liebe und Goldstaub hergerichtete Dampfkutsche erfüllte klaglos ihren Dienst. Unsere erste Station war Dobrenicze. Als wir auf dem Marktplatz einrollten, pfiff Egon gerade das Stück Afghan Black von Muzlimgauze. Schnurstracks frequentierten wir das erste uns ins Blickfeld kommende Wirtshaus und bestellten - wie immer - Einmal die lokalen Spezialitäten für Alle. Dazu gehörte hier ein Bier namens Dobrezano, das ob seines unverhältnismässig hohen Alkoholgehalts im Volksmund auch Dosenöffner genannt wird, wie uns der Kellner, ein junger Mann mit dem Aussehen eines Thomas Anders, der über Jahrzehnte hinweg morgens, mittags und abends eine Riesenportion Schweinshaxe zu sich genommen hat, mit anzüglichem Augenzwinkern verriet. Er fügte unter ordinärem Lächeln hinzu, er selbst brauche dieses Dobrezano jedoch nicht, da er immer seinen eigenen Dosenöffner in der Hose habe. Zuerst ordnete ich diese Aussage des Kellners in die Rubrik 'Das übliche chauvinistische Syndrom retardierter Angehöriger des Prekariats' ein. Kurz darauf jedoch war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob Bob, so nannte sich der Kellner, nicht doch Recht hatte, denn vom Nebentisch rief permanent ein junges Mädchen mit langen roten Haaren, die in seltsamem Kontrast zu ihren fast genau so langen, orangenen Wimpern standen, so etwas wie 'Buana, Achte me otro dosicz optcze, achte me otro dosic optche...'. Mehr konnte ich nicht verstehen. Dabei beugte sie sich so zu uns herüber, dass wir ihre voluminösen, lilafarbenen Brustwarzen sehen konnten. Bob, der Kellner, übersetzte für uns mit seinem unnachahmlichen Deutsch, das er sich an Hand der originalsprachigen Folgen des 'Schulmädchen Report', die in Polen mit Untertiteln daherkamen, selbst beigebracht hatte: 'Buana, du mich kaufen noch eine Dosenöffner, meine Dose schon so lange geschlossen...?', wobei er sich halb tot lachte. Ich tat ihr jedoch nicht den Gefallen, sondern schaute in mein Glas und zog von der eben erlebten Szene Analogien zu einem vor kurzem gelesenen Kapitel aus J.P. Sartres 'Sexus und Sekretariat'.
Im Hintergrund auf der Bühne spielte und sang derweil eine lokale Kapelle aus 27 Kindern auf dilettantischste Art und Weise 'Kalinka' und Egon pfiff dabei das Stück 'The Inmost Night' von Current 93. Zwischendurch flüsterte er den Text in stakkatoformigen Halbsätzen. Paul und Klimte unterhielten sich über Reittiere in langgedehnten, ins endlose gehende Sätzen und das Mädchen vom Nachbartisch wurde immer lauter ('Buana, Achte me otro dosicz optcze, achte me otro dosic optche...'). Zwischendurch kamen die Einheimischen der Reihe nach an unseren Tisch und erzählten von den Konzerten, die in ihrem bisherigen Leben den grössten Eindruck auf sie gemacht hatten. Ein etwa 9-jähriges Mädchen beispielsweise berichtete minutiös (inclusive der kompletten Setlist in chronologischer Reihenfolge) über ein Konzert von 'Deutsch-Nepal', das sie gestern gerade erst am Dorfbrunnen erlebt hatte. Der ca. 33-jährige Bürgermeister von Dobrenicze war total begeistert von 'Zoviet France', die er einmal in Osaka, versteckt hinter einem Heiligenschrein, erleben durfte. Am meisten hatte ihn die offene, ungekünstelte Freundlichkeit der Bandmitglieder beim anschliessenden Saufgelage beeindruckt. Ein 6-jähriger Steppke teilte uns mit glockenheller Stimme - in meinen Augen etwas zu altklug - seine aussersinnlichen Erfahrungen mit, die er während eines Konzerts von 'Black Sun Productions' , beginnend mit dem Stück 'Pimp Ballad', gemacht hatte. Auf Grund seines geringen Alters schloss ich messerscharf, dass diese Erfahrungen aus seinem vorherigen Leben stammen mussten.
Schliesslich mussten die 27 Kinder des lokalen Kalinka-Orchesters (ja, so nannten sie sich wirklich) ins Bett und auch wir legten uns - jeder mit seinem iPod - ins Heu. Paul und Klimte hörten gemeinsam - über verschränkte Kopfhörer - Madonna's Like A Virgin, Egon Nurse With Wounds Tune Time Machine (und flüsterte dabei den Text vor sich hin), und ich klinkte mich in Acid Mother's Temple's The Holly Mountain in the Counterclock World ein. Nach exakt 1 Stunde, 1 Minute und 36 Sekunden fiel ich in tiefen, traumlosen Schlaf.
Das Frühstück - Rührei mit Spezies während eines gerade stattfinden 'Morning Wet-T-Shirt-Contests' - sowie die sich über den ganzen Tag hinziehende, ereignislose Fahrt durch polnische Wälder und Wiesen sind nicht weiter erwähnenswert. Mit Einbruch der Dämmerung fuhren wir auf dem Marktplatz von Taczenia ein. Hier - wie immer - dasselbe Ritual: wir gingen schnurstracks in das erste uns ins Blickfeld kommende Wirtshaus und bestellten 'Einmal die lokalen Spezialitäten für Alle'. Hier war die flüssige lokale Spezialität ein Bier namens 'Angry Adrenalin', das nach einer im Ort ansässigen Blues-Rock-Band gleichen Namens benannt war. Die Band spielte zufällig gerade auf der Bühne des Hinterzimmers - ihr Sound erinnerte mich an die späten Aufnahmen von Blue Cher. Nach ihrem Set - wir waren gerade bei der Nachspeise - setzten sie sich an unseren Tisch und wir kamen ins Gespräch. Billy, der Sänger, erzählte u.a., dass ihre Besetzung des öfteren wechsele, jedoch der Sound nichtsdestotroz schon seit 9,5 Jahren konstant bliebe. Es sei schwierig, beim Fortgang eines Musikers einen Ersatz zu finden, da es für eine Aufnahme in die Band - neben den notwendigen musikalischen Voraussetzungen natürlich - erforderlich sei, mindestens einen Menschen getötet zu haben. Ihren Namen hätten sie aus einer kleinen Geschichte aus einem deutschen Blog mit Namen 'Ma Kultura', in der eine Band dieses Namens eine Rolle spielt. Sie hatten sogar den direkten Link parat:
(http://netdns.typepad.com/ma_kultura/2009/02/wir-brachen-in-der-kahrener-hauptstr-23-in-cottbus-auf-die-hausnr-23-wurde-bewusst-wegen-ihrer-symbolik-gew%C3%A4hlt-wir-das.html)
Trotz ihres wilden Namens sowie des nicht ganz alltäglichen Backgrounds der einzelnen Musiker waren sie nette, angenehme Zeitgenossen, die Unmengen Bier und Unicum in sich hineinschütten konnten.
Uns zu Ehren gaben sie noch ein paar akustische Ständchen. Egon wünschte sich 'I am the Poison' von Nurse With Wound, das die Musiker - nicht zuletzt wegen ihres Titels - natürlich kannten und liebten und auf Grund dessen begeistert 'in die Tasten hauten', Paul und Klimte wünschten sich ihr Lieblingsstück 'Like A Virgin' von Madonna, das 'Angry Adrenalin' - äusserst vulgär - in einer unnachahmlichen, schon fast an alte Laibach-Stücke erinnernden Version intonierten.
Ein mittelalter Mann, aussehend und gekleidet wie Jhon Balance in seiner letzten Ruhestätte, kam währenddessen ab und zu an unseren Tisch und sagte immer wieder denselben Satz: 'Ich bin der permanent auf sich selbst referenzierende Morphogenetische Hoax'. Sein weisses Gewand war bedruckt mit einem seltsamen Bild, auf dem ich lediglich eine Reihe umgedrehter Versionen des Buchstabens 'P' erkennen konnte. Quasi als Rausschmeisser wünschte ich mir 'Abschied ist ein scharfes Schwert' von Roger Whittaker, wobei ich sogar ausnahmsweise mit auf die Bühne durfte (ohne vorher jemanden umbringen zu müssen), um Takt und Melodie vorzugeben.
Als wir schon im Heu lagen und begannen, synchron unsere iPods herauszuholen, kam eine ältere Dame in einem purpurfarbenen Gewand - eine wirklich imposante, würdevolle Erscheinung - in unser Gemach und zeigte uns ihre voluminösen lila Brustwarzen (das scheint in dieser Gegend die vorherrschende Farbe dieser Körperteile zu sein). Sie erklärte uns, sie sei die Frau des Wirtes unserer Herberge und das Anbieten der Brustwarzen an durchreisende Fremde sei in Taczenia Usus, ähnlich dem ehemaligen Brauch der Innuit, über Nacht bleibenden Durchreisenden die eigene Ehefrau anzubieten. Wir durften jeder genau 5 Minuten an ihren Brustwarzen saugen. Währenddessen flüsterte Egon unablässig den Text zu 'The Angelica Declaration' von Thighpaulsandra, zwischendurch auch mal 'Egon will nur spielen'. (Thighpaulsandra ist übrigens ein sehr aufgeschlossener und netter
Mensch, den ich einmal das Glück hatte interviewen und filmen zu dürfen.)
Zum Abschluss des Tages hörten Paul und Klimte gemeinsam - über verschränkte Kopfhörer -
Madonna's Like A Virgin, Egon The Eyes of Stainley Pain von Download (und
flüsterte dabei den Text vor sich hin), und ich klinkte mich in Maitreya Kali's Color Fantasy ein.
Nach exakt 3 Minuten fiel ich in tiefen,
traumlosen Schlaf.
Nach dem Frühstück - Popcorn mit Hindernissen während eines gerade durchgeführten 100-Meter-Laufs aller Dorfbewohner ab 80 - am nächsten Morgen gab uns die würdevolle, diesmal ganz in Rot gekleidete Wirtin noch einmal ihre Brustwarzen und die gewohnte, ereignislose Tagesreise durch die Wiesen und Wälder Polens begann. Das einzig Erwähnenswerte war die Überquerung der Grenze zu Slowenien, an der wir 3 Stunden warten mussten, da vor uns 3 indische Maharadschas auf ihren Elefanten aufs ausgiebigste kontrolliert wurden.
Gegen Mittag waren wir am Ziel unserer Reise angelangt und fuhren auf dem Marktplatz von Medzilaborce ein. Wir setzten unsere Kapuzen auf, in denen wir aussahen wie mittelalterliche Scharfrichter und begaben uns schnurstracks zu unserem Bestimmungsort, dem Andy Warhol Family Museum of
Modern Art. Wir waren die einzigen Besucher. Als erstes fielen uns Installationen auf mit Schüsseln und Eimern, in die Wasser tropfte. Diese konnten wir keiner bisher bekannten Schaffensperiode Warhols zuordnen. Ein als Fremdenführer verkleideter Muttersprachler führte durch die einzelnen Räume und erklärte uns 'dies und das'. Zwischendurch streute er immer wieder den - in holprigem Englisch ausgesprochenen - Satz ein: I would be happy to be as gay as Andy was. Später entdeckten wir im Museumsshop T-Shirts mit dieser Aufschrift, die jedoch nur Paul und Klimte kauften, während sie über ihren iPod zum x-ten Mal Like A Virgin von Madonna hörten. Am besten gefielen mir die ausgestellten Drucke von 'Mao C Tung', wer immer das auch ist. Während ich diesen gedruckten Herrn ca. eine halbe Stunde lang betrachtete, hörte ich ununterbrochen das Stück Incubus Succubus' von X-Mal Deutschland' auf meinem iPod. Den grössten Eindruck während des Museumsbesuchs hat bei mir jedoch Egons fast schon dämonisches Flüstern des Textes 'Kaltes Klares Wasser' von Malaria hinterlassen, während ich wie hypnotisiert das in Schüsseln und Eimer tropfende Wasser der schon weiter oben erwähnten Installationen betrachtete.
<Ab hier könnt ihr den Film rückwärts laufen lassen bis ihr wieder in der Hauptstr. 23 in Cottbus ankommt. Das rückwärtige Abspielen der einzelnen Musikstücke wird euch einige unerwartete Textfetzen und Bedeutungen bescheren.>
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