Letztes Wochenende habe ich im Autoradio wieder mal WDR4 gehört und meinem ab und an auftauchenden Faible für deutsche Schlager gefrönt. Es müssen jedoch ‘richtige’ deutsche Schlager sein. Zu denen in Eckkneipen zu vorgerückter Stunde nicht mehr ganz nüchtern auf der Theke getanzt wird. Ein Lied wie z.B. ‘Königin der Nacht’ von Isabel Varell. Sofort bei den ersten Tönen kam mir der Gedanke, dieses Lied müsste in einer Coverversion von Lydia Lunch interpretiert werden. Passt ja auch gut zusammen - zwei ehemalige, abgehalfterte Stars. Obwohl Lydia Lunch das Abgehalftertsein ja schon zu Beginn ihrere ‘Karriere’ zum Markenzeichen erhob - und sich bis jetzt, genau wie Isabel Varell auf ihre Art, keinen Schritt weiterentwickelt hat, wie aus der Ankündigung zu ihrer Performance im November dieses Jahres in Wien zu entnehmen ist.
Nun tat sie sich mit James Johnson (Gallon Drunk) an der Gitarre und
Ian White an den Percussions zussammen um mit dem audio-visuellen
Projekt „The Ghosts Of Pain“ die Themen Sex, Wut, Kummer und den
ewigen, verzweifelten Kampf um Befreiung unter die Lupe zu nehmen.
Gähn.
Lydia Lunch und Isabel Varell (erstaunlich, wie die Texte von Isabel Varell auch - aus meiner Sicht - zu Lydia Lunch passen) könnten sogar zusammen auf Tour gehen. Voraussetzung wäre natürlich, dass beide Selbstironie und Humor haben. Ich zumindest würde hingehen.
WDR4 ist dann am besten, wenn Hörerwünsche gespielt werden. Und durchgestellte Anrufer kleine Geschichten zu ihren Lieblingsliedern erzählen. So wie die ältere Dame von ihrem Kurschatten (‘Sie wissen doch, was ein Kurschatten ist?-kicher’), den sie bei Bata Illic’s ‘Mit verbundenen Augen’ (für mich eines der Highlights deutscher Schlagerkultur) kennenlernte (der genialste Titel Bata Illic's ist für mich jedoch zweifelsohne 'Ich möcht' der Knopf an Deiner Bluse sein')
Als ich letzten Samstag zum Hemden kaufen ging
sah ich in der Boutique eine Textilverkäuferin.
Sie trug die neuste Mode
bis oben Knopf an Knopf
und die enormen Formen gingen mir nicht aus dem Kopf.
Ich dachte mir: Wie komm ich ran?
gab mir 'nen Stoß und sprach das schöne Fräulein an
Ich möcht der Knopf an deiner Bluse sein
dann könnt ich nah
nah. nah
nah
nah bei deinem Herzen sein!
Und legst du nachts die Bluse hin
dann bin ich froh
daß ich in deinem Zimmer bin!
...
via Lyricsdownload
Oder die Dame, die beim Urlaub am Meer mit ihrer Familie immer ‘Blödsinn’ im Wasser machte. Einmal wurde sie von gefährlichen Wellen ergriffen und hin und her geworfen. Zuerst lachte ihre Familie wieder nur, da alle dachten, Mutti macht mal wieder Blödsinn. Erst im letzten Moment zog ihr Sohn sie aus dem Wasser und rettete ihr das Leben. Während ihres Kampfes mit den Wellen dachte sie jedoch in erster Linie an die Träger ihres Badeanzugs, die rutschen könnten und war fast ausschliesslich damit beschäftigt, sie fest zu halten. Mit welchem Lied diese schöne Geschichte verknüpft war, habe ich leider vergessen.
Der Moderator geht im Gespräch mit den Anrufern auf jede Schote ein, macht peinliche, immer zustimmende Bemerkungen und lacht hörbar gekünstelt über jeden - auch vermeintlichen - Witz.
Von Lydia Lunch ist es ja bekanntlich nicht weit zu Foetus, den ich mir gut mit Bata Illic zusammen auf Tournee vorstellen könnte, dessen romantische Lieder angemessen aggressiv interpretierend. Höhepunkt der Show könnte sein, wenn Foetus, im Duett mit Bata Illic, herausschreit: Dich erkenn’ ich mit verbund’nen Augen - nur an Deiner Zärtlichkeit. Im Hintergrund laufen dazu Videos der 80er-Jahre Gruftie-Elektronik Combo ’Die Form’ (deren Show mit - in meinen Augen gekünstelter - Sado-Maso Pose mich in den 80ern des letzten Jahrhunderts ziemlich langweilte).
Immer gut sind auch die Flippers (und sie sehen auch - immer noch - gut aus - leider kann man das im Radio nicht sehen). Dieses Mal wird ihr Lied mit dem genialen Titel ‘Schöne Mädchen heissen Gabi’ gespielt.
Wählt die Redaktion die Titel aus, fällt das Programm von WDR4 merklich ab. Da kommen dann auch pseudo- oder gewollt kritische Interpreten zum Zuge, die bemüht bedeutungschwanger oder cool von gleichgeschlechtlicher Liebe und/oder Emanzipation singen. Mit musikalischer Begleitung, die rockiger und/oder anspruchsvoller sein soll. Zu der man jedoch nicht zu vorgerückter Stunde seligtrunken auf der Theke tanzen kann. Ein eklatantes Manko.
Ganz schlimm wird es dann abends, wenn das Programm bewusst anspruchsvoll sein soll. Da spielt die Moderatorin doch glatt ein Lied von Franz Josef Degenhardt, der - man glaubt es nicht - vor kurzem wieder eine neue Platte herausgebracht hat. Das Lied heisst - aktuellen Bezug vorgaukelnd - ‘Digitaler Bohemien’, transportiert jedoch weiterhin die bekannte altbackene Botschaft des ehemaligen DKP-Hofsängers. Die Moderatorin meint, die Platte klinge anachronistisch, jedoch mit dem sie entlarvenden Zusatz: was nicht unbedingt schlecht sein muss.
Später kommt noch ein Stück von Erich Schmeckenbecher (ja, der heisst wirklich so), eine Hälfte des Duos ‘Zupfgeigenhansel’, dieser für mich schon in den 70ern des letzten Jahrhunderts unsäglichen Combo. Er musiziere noch zusammen mit alten Kollegen aus den 70ern und halte das deutsche Liedgut hoch. In dem von der Moderatorin gespielten Stück vertont, nein verhunzt Herr Schmeckenbecher ganz zupfgeigenhanselmässig ein Gedicht von Goethe.
Nach Langeweilern wie Herr Degenhardt oder Herr Schmeckenbecher nun zum Abschluss das - für mich - Highlight deutscher Schlagerkultur:
Currently playing in the
background: Bernd Clüver - Der Junge mit der Mundharmonika
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